Jansenismus: Eine Elitemoral

Jansenismus: Eine Elitemoral
Jansenismus: Eine Elitemoral
 
Michael Bajus hatte seine Vorstellungen zur Gnadenlehre, die an einigen Universitäten Anstoß erregt hatten, mehrfach selbst widerrufen, bevor seine Auseinandersetzung mit Lessius vom Molinismus in den Hintergrund gedrängt wurde. Einer seiner Schüler, der Löwener Theologe Cornelius Jansen, vertrat in seinem Lebenswerk »Augustinus« eine rigoristische Elitemoral und attackierte heftig die Jesuiten wegen ihrer Laxheit in der pastoralen Praxis und ihres optimistischen Menschenbilds. Als seine Schrift 1640 postum erschien - Jansen war bereits zwei Jahre zuvor verstorben, und der Jesuitenorden beging gerade seine Hundertjahrfeier -, lebte die Kontroverse um göttliche Gnade und menschliche Freiheit wieder auf und zog in kürzester Zeit weite Kreise, die bis in die Zeit der Französischen Revolution und darüber hinaus Wirkung zeigten.
 
Besonders in Frankreich, wo sich Jansen zusammen mit seinem Freund Jean Du Vergier de Hauranne lange aufgehalten hatte, erhielt die Bewegung Zulauf. Jansenistisches Zentrum wurde das Zisterzienserinnenkloster Port-Royal in der Nähe von Versailles. Dieses Kloster, in dem die Nonnen unter der damaligen Äbtissin Angélique Arnauld die jansenistische Ethik zu leben versuchten, wurde zum Mittelpunkt vornehmer gesellschaftlicher Kreise. Die radikale gläubige Innerlichkeit des Jansenismus drückte sich in einer erneuerten Beicht- und Sakramentenpraxis aus, der man nachsagte, den einfachen Gläubigen nicht nur zu überfordern, sondern sogar vom Empfang der Kommunion gänzlich abzuhalten. Zu der elitären Vereinigung zählte neben dem Bruder der Äbtissin Antoine Arnauld auch Blaise Pascal, der es 1656 verstand, in seinen berühmten »Lettres à un Provincial« die Bußpraxis und Moraltheologie der Jesuiten zu diskreditieren.
 
Zusätzlich zu den theologischen Themen bekam der Streit auch politische Brisanz: Bereits 1635 hatte Jansen mit seiner Schrift »Mars gallicus« gegen Kardinal Richelieus Außenpolitik und Frankreichs Eintreten in den Dreißigjährigen Krieg opponiert, weil es sich dadurch mit protestantischen Staaten gegen das katholische Spanien verbünde. Richelieu ließ im Gegenzug Du Vergier 1638 einkerkern, da dieser an einer Politik öffentlich Kritik übe, die primär das Wohl des Staates im Auge habe. Er und sein Nachfolger Mazarin suchten die durch den Jansenismus hervorgerufene Situation einer drohenden Spaltung der französischen Kirche durch rücksichtslose Bekämpfung seiner Vertreter zu verhindern. Eine weitere Politisierung ergab sich in der Spätphase des Jansenismus, als dieser sich mit französisch-nationalkirchlichem Gedankengut (Gallikanismus) mischte und gegen den Einfluss Roms die Macht der Ortsbischöfe zu stärken suchte (Episkopalismus). In dieser säkularisierten Form griff der Jansenismus dann auch auf Österreich, Italien und Teile Deutschlands über; seine Ideen und Aktivitäten reichten bis ins 19. Jahrhundert.
 
Offenbar irritierte der Rigorismus der Bewegung nicht nur das Papsttum, das sich gerade von der Reformation zu erholen begann, sondern auch den absolutistischen französischen Staat. Die zahlreichen Verurteilungen der Jansenisten blieben jedenfalls wirkungslos, bis Ludwig XIV. sie sich zu Eigen machte. In seinem von Absolutismus und Zentralismus geprägten Staatsbild bildete der einheitliche Glaube die Voraussetzung für die Einheit des Staates. Port-Royal wurde 1710 aufgehoben, seine Gebäude zerstört, und der Anführer der Jansenisten, Pasquier Quesnel, wurde des Landes verwiesen. Von Belgien und den Niederlanden aus versuchte Quesnel, den Jansenismus durch ein Netz von Verbindungsleuten an den Höfen und Universitäten und durch den Vertrieb der jansenistischen Zeitschrift »Nouvelles ecclésiastiques« über ganz Europa zu verbreiten. Als 1713 schließlich Klemens XI. auf Betreiben des französischen Königs mit der Bulle »Unigenitus« über 100 Sätze - überwiegend aus dem Werk Quesnels - verurteilte, spaltete sich die französische Kirche in eine Gruppe von Bischöfen, die zur Entscheidung des Streits an ein allgemeines Konzil appellierten (Appellanten), und solche, die sich der Bulle unterwarfen (Akzeptanten). Erst mit dem Tod Kardinal Noailles', des letzten einflussreichen Jansenisten in Frankreich, und der Erklärung der Bulle zum unmittelbaren Staatsgesetz im Jahr 1730 ging die große Zeit des Jansenismus in Frankreich langsam zu Ende. Noch 1756 ordnete Benedikt XIV. an, den Gegnern der Bulle die Sterbesakramente zu verweigern. Immerhin konnten sich die Jansenisten trotzdem als geachtete Minderheit bis in die Zeit der Französischen Revolution behaupten, in den Niederlanden hingegen kam es 1724 wegen des Versuchs von Papst Klemens XI., den jansenistischen Bischof Pieter Codde abzusetzen, zum Schisma. Seither ging die Kirche von Utrecht einen eigenen Weg und schloss sich nach dem 1. Vatikanischen Konzil 1889 der altkatholischen Utrechter Union an.
 
Dr. Ulrich Rudnick
 
 
Geschichte der katholischen Kirche, herausgegeben von Josef Lenzenweger u. a. Neuausgabe Graz u. a. 31995.

Universal-Lexikon. 2012.

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